Der ultimative Desktop
Weil die Idee aus dem letzten Kapitel so fundamental ist, will ich sie nochmals auf eine andere Art und Weise
erklären. In seinem TED-Vortrag vergleicht Donald Hoffman unsere Wahrnehmung
der Realität mit Datenzugriff auf einem Computer.
Wenn die Realität den Datenstrukturen auf der Festplatte
entspricht, dann ist unsere Sicht darauf gleich den Icons und
Ordnern auf dem Desktop. Alle Konzepte, die wir benutzen, um das Universum zu beschreiben, wie
zum Beispiel 'Objekt', 'Katze' oder 'Elektron' sind 'Icons' auf dem ultimativen Desktop, den unser
Gehirn aufbaut, wenn wir mit der Welt interagieren. Alles was wir vor uns sehen: Farben, Formen,
Objekte, Bewegung und Ursachen sind nützliche Modelle, um in der Welt erfolgreich zu sein
(ursprünglich im evolutionären Sinne). Wie weit diese Konzepte von der Wirklichkeit entfernt
sind kann man ein wenig erahnen, wenn man Quantenmechanik und Relativitätstheorie studiert (die
selbst natürlich auch 'nur' Modelle sind).
Was macht das Gehirn da eigentlich?
Stellt euch eine Landschaft vor, mit Hügeln und Tälern, wo der Boden an verschiedenen Stellen unterschiedlich hart ist. Nun fängt es an zu regnen und das Wasser sucht sich langsam aber sicher seinen Weg in die Täler und schließlich ins die Ozeane. Nach vielen Millionen Regenfällen haben sich Bäche, Flüße und Seen gebildet, das Wasser fließt nicht mehr irgendwohin ab, sondern sucht sich immer wieder ähnliche Wege.
Ebenso formen die elektrischen und chemischen Ströme die 'Landschaft' unseres Gehirns. Neuronen verhalten sich zwar etwas anders als Erdbestandteile, aber auch hier gilt, dass häufige Benutzung zu besseren Verbindungen führt, wird eine Verbindung nicht benutzt, so wird sie ähnlich wie ein Bach durch 'Erosion' wieder zugedeckt. Die Landschaftsanalogie erklärt auch, warum junge Menschen einfacher ganz neue Dinge lernen können, als ältere Menschen. Bei den letzteren sind gewisse Denkmuster schon so festgefahren, dass es nur schwer ist, diese in eine neue Bahn zu lenken.
Wenn wir eine unbewusste 'Annahme' machen oder Vorurteile an den Tag legen, dann ist das nichts anderes als die Benutzung bereits vorhandener Strukturen, um neue Sinnesreise zu interpretieren. Der interne Zustand des Gehirns entwickelt sich dynamisch unter dem Einfluß der Sinne (oder 'ohne' ihre Einwirkung bei Nacht). Dabei geben angeborene Strukturen und (vor allem in der Kindheit) erlernte Modelle den Rahmen an, in dem sich unsere Gedanken entwickeln können. (Man beachte, dass diese Beschreibung selbst ein vereinfachtes Modell ist, also beispielsweise die Einwirkung von Temperatur und Blutzuckerlevel außen vor lässt.)
Zu den biologischen Beschränkungen gehören beispielsweise der fundamentale Aufbau unseres Gedächtnisses oder die Mustererkennung in unserem visuellen Zentrum. Die grammatikalischen Beschränkungen in der Sprache sind ein Beispiel für eine erlernte Beschränkung. Es gibt keinen physikalischen Grund, warum wir gewisse Wörter nicht nacheinander sagen könnten, aber wenn wir die Regeln nicht bewusst brechen, fällt es uns schwerer soetwas wie "Kost Wald minimal Kauen und sein goldene Laufen" zu sagen, weil unser Gehirn normalerweise versucht etwas sinnvolles durch das Gesagte auszudrücken.
Viele, viele Modelle
Schaut mal auf irgendeinen Gegenstand, der in der Nähe steht oder liegt!
- Wie groß ist dieser und wie könnte man die Form beschreiben?
- Aus welchen Materialien besteht es? Was kann man über Farben und andere Oberflächeneigenschaften sagen?
- Wie schwer ist es und wo liegt der Schwerpunkt?
- Warum ist es hier? Hat es jemand mit einer Absicht hier hingetan? Was kann man alles damit machen?
- Aus welchen Teilen besteht es? Wie beweglich ist es? Kann man es leicht zerstören?
- Hat es einen Namen? Wie würde man den Gegenstand in einem Cartoon zeichnen?
- Ist es besonders oder 'normal'? Wie wäre die Antwort auf die letzte Frage, wenn man sie vor 1000 Jahren gestellt hätte?
- Wo und wie ist es im Vergleich zu anderen Objekten? (auf dem Tisch, größer als ein Marienkäfer, ...)
- und so weiter...
Das ist nur eine kleine Auswahl von Perspektiven, unter denen man ein Objekt ansehen kann. Wir können ein und dasselbe Objekt ertasten, erschmecken, sehen, riehen, wiegen und daraus ganz verschiedene Modelle oder Teilmodelle erstellen. Wenn ich über mentale Modelle rede, dann meine ich damit nicht die Antwort auf eine dieser Fragen, sondern das komplexe Gebilde, das sich in unserem Gehirn bildet, wenn wir ein Objekt durch die verschiedenen Wahrnehmungsfilter schicken und diese Teilmodelle dann im Gehirn zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen.
Wozu ist das gut?
- Wenn wir etwas lernen oder erklären wollen, ist es hilfreich sich Gedanken darüber zu machen, welche Modelle man im Kopf erzeugen will und auf welchen sinnlichen Kanälen sich diese Information besser übertragen lässt.
- Bewusste Modellbildung erlaubt es Denkfehler schnell zu erkennen und Probleme zu lösen (oder wenigstens besser zu verstehen) die Philosophen schon Jahrhunderte beschäftigen.
- Modelle für die Arbeitsweise des Gehirns können uns helfen, wenn es darum geht Wege zu finden mit Menschen auszukommen, die anderes denken als wir.
- Man kann besser verstehen, warum und wie optische Täuschungen entstehen.
Zum Nachdenken
- Wieviele verschiedene Arten/Perspektiven fallen euch ein, um ein Objekt zu betrachten? In welchen Medien kann man Modelle des Objektes erstellen? (Sprache, Bilder, mathematische Formeln, ...)
- Wenn Elektronen und andere Elementarteilchen 'nur' Modelle einer weit merkwürdigeren Realität sind, auf die wir keinen direkten Zugriff haben, bedeutet das das Ende der Wissenschaften?
- Wie passen Gefühle in dieses Bild unseres mentalen Lebens?